Es gab einmal eine Zeit, in der die Wall Street nicht mit ihren Research-Stücken hausieren gehen musste. Es gab einmal eine Zeit, in der Anleger an aktives Management und an die Werthaltigkeit der Researchpapiere von Brokerhäusern glaubten. Goldman-Sachs-Strategin Abby Joseph Cohen verfasste damals Artikel mit faden Überschriften wie „Niedrige Dividendenrendite biete keinen Grund zur Sorge“. Ihre Einsichten wurden von institutionellen Investoren genauso eifrig verbreitet wurden wie dies sonst Fünftklässler mit nicht für sie bestimmte Liebesbriefchen tun.
Das hat sich gründlich geändert. Um auf einen Investorenbrief aufmerksam zu machen, wählte das Brokerage von AllianceBernstein, Bernstein Research, die bemerkenswerte Überschrift „Der schleichende Pfad zur Leibeigenschaft: Warum passives Investieren schlimmer als Marxismus ist.“ Die Sensationsmacherei funktionierte – Bloomberg, CNBC und andere Finanzmedien sprangen auf. Und auch der Autor dieser Kolumne gesellt sich in den Reigen ein.
Der Titel machte mich Grübeln: Fonds sind kollektive Unternehmungen, die zum Wohl der Gruppe kreiert wurden. Einige gehen sogar so weit, unwillkommenes individuelles Verhalten, das das große Ganze gefährdet, mit Rückgabegebühren zu bestrafen. Was maßt sich also AllianceBernstein an, Karl Marx herabzusetzen? AllianceBernstein sollten dem Mann eine Statue an der Rezeption errichten!
Andererseits, warum sollte man sich über sensationsverheissende Überschriften beschweren? Zudem kann man die Anspielung auf Marx auch verteidigen. Das Papier von AllianceBernstein diskutiert den Prozess der Allokation von Kapital und Marxismus ist schliesslich ein Weg, um Kapital zu allokieren.
Hoch hinaus
Abgesehen von der Überschrift gibt das Papier diesem Autor wenig Anlass zum Neid. Der Inhalt ist ehrgeizig – die Themen umfassen:
1.Das marxistische Prinzip der Sozialplanung
2.Korrelation der globalen Aktienkurse
3.Eine 18 Seiten umfassende Analyse von Minenunternehmen
4.Finanzdefizite wegen leistungsorientierter Pensionspläne
5.Die Rolle von Treuhändern
6.Nachhaltiges Investieren nach ESG-Kriterien
7.Die durchschnittliche Haltedauer für Anteilseigner von Anlagefonds
Der Erfindungsreichtum der Verfasser erstreckt sich auch auf den Einsatz von Zitaten. In einer Passage wird Marx zitiert, anderswo das Alte Testament (Genesis), dann die Etymologiae von Isidor von Sevilla. Leider wurde Milton ausgespart, der auch noch ungeborene Genies beeinflussen dürfte.
Was das Ganze insgesamt bedeuten soll, ist mir allerdings schleierhaft.
Unverständlich ist auch, inwiefern der überwiegende Teil des Papiers die Behauptung stützen soll, dass das Wachstum von passiven Investments der Gesellschaft durch eine verringerte Effizienz der Kapitalallokation schaden soll.
In der Theorie ganz einfach
Die Basisprämisse des Papiers ist zunächst korrekt. Wenn jeder Aktionär ein passiver Anteilseigner wäre und jeder investierte Penny nicht dem relativen Wert eines Unternehmens, sondern der Replikation eines Indexes zugeschrieben werden müsste, würde die Kapitalallokation tatsächlich fehlerhaft werden. Unternehmen, deren Umsätze und Gewinne zulegen, würden für diesen Erfolg nicht belohnt. Und Unternehmen, deren Umsätze und Gewinne zurückgehen, würden für ihre Fehler nicht bestraft.
Eine solche Kapitalallokation dürfte tatsächlich schlimmer sein als all das, was der Sozialismus erreicht hat. Allerdings sind wir von einer derartigen Konstellation noch sehr weit entfernt. Weltweit halten aktive Investoren zwei Drittel aller Aktien, was 45 Billionen US-Dollar entspricht. Das ist sehr viel Geld.
Da die weltweiten Aktienmärkte so riesig sind, kann der Prozentteil der passiv investierten Vermögen noch deutlich zulegen, würde aber immer noch Raum für einen großen aktiven Pool bieten. Wenn 90 Prozent aller Aktien weltweit im Besitz von Indexfonds wären – und was zu meinen Lebzeiten nicht passieren wird – würde immer noch ein Rest von sieben Billionen US-Dollar übrig bleiben, der aktiv investiert wäre. Das dürfte immer noch genug Geld sein, um das Geschäft der Unternehmen weltweit bewerten zu können.
Verwirrende Praxis
Selbstverständlich ist das nur eine Vermutung, die auch falsch sein kann. Sollten Indexfonds 90 Prozent des Aktienmarkts ausmachen, könnten die Aktienkurse deutlich weniger effizient ermittelt werden, als das heute der Fall ist. Es wäre möglich, dass obwohl intelligente, informierte Investoren solche Ineffizienzen ausnutzen würden, ihre Bemühungen dennoch bis zu einem gewissen Grad insuffizient wären, um die Aktienmarktkurse rationaler zu gestalten. Das könnte alles wahr sein. Doch wer weiß das schon? Die Autoren rudern wild mit den Armen. Doch auch sie können keinen Zahlen herbeihexen. An keiner Stelle im Papier wird versucht, den Wendepunkt hin zu weniger Markteffizienz zu identifizieren. Das, was dem am nächsten kommt, ist eine Schätzung über den Effekt des weiteren Wachstums von passiven Investments auf Aktien-Korrelationen. Allerdings sind Korrelationen keine Maßeinheiten, mit denen die Aktienmarkt-Effizienz bemessen werden kann. Korrelationen bemessen zudem genau so wenig die Effektivität von Kapitalallokationen.
Wo liegt der optimale Punkt der Laffer-Kurve?
Diese Diskussionen erinnern an Debatten über die Laffer-Kurve zur optimalen Steuerquote. Die Existenz dieser Kurve konnte nicht bestritten werden. Eine Steuerquote von Null erzielt in der Tat auch keine Steuereinnahmen. Eine Steuerquote von 100 Prozent würde, vorausgesetzt der Staat unternähme keine Zwangskonfiszierungen, Steuereinnahmen nahe Null bringen. Beide Extreme sind also schwach.
Die beste Steuerpolitik liegt irgendwo dazwischen. Das Problem der Operationalisierung dieser Kurve im echten Leben ist, dass ihre Lektionen nur dann anwendbar sind, wenn man weiß, wo die Kurve gezeichnet werden sollte. Andernfalls könnte eine veränderte Steuerpolitik auch zur Folge haben, dass ein Staat am falschen Kurvenende landet. Die Laffer-Kurve existiert also. Doch wo kann sie lokalisiert werden? Diese Frage wurde bisher noch nicht zufriedenstellend beantwortet – und dieses Problem hat die Anwendung des Konzepts verkompliziert.
Welche Laffer-Kurve ist die richtige?
Das gleiche kann auch über den Wendepunkt des aktiven Investierens gesagt werden. Zu Recht macht das AllianceBernstein-Papier geltend, dass ein aktiver Prozentsatz von Null nicht ideal sei. In einem solchen Universum wären die Fondskosten für Anleger sehr niedrig. Doch die indirekten Kosten infolge des ineffizient allokierten Kapitals wären sehr hoch. Andersherum wäre das Kapital bei einem Anteil aktiver Investoren von 100 Prozent (wie es bereits vor einigen Jahrzehnten der Fall war), so effizient wie möglich allokiert, aber die Kosten für die Anleger wären sehr hoch. Das ist, wie wir uns erinnern, auch nicht ideal.
Daher dürfte aus Sicht der Gesellschaft das optimale Niveau des aktiven Investierens irgendwo zwischen null und 100 Prozent liegen. (Aktive Manager haben natürlich eine andere Sichtweise.) Im Idealfall tragen Anleger die niedrigstmöglichen Fondsausgaben, weil sie den höchstmöglichen Betrag passiv investiert haben. Doch das Kapital wäre wegen der Präsenz von genügend aktiven Investoren angemessen effizient verteilt.
Das Bild dazu, wo dieser Punkt liegen könnte, ähnelt der Laffer-Kurve. Es dürfte relativ sicher sein, dass der Anteil von aktiven Investoren bei unter 50 Prozent liegen dürfte. Wahrscheinlich ist es deutlich weniger, aber tatsächlich weiß man es nicht. Genauso wie bei der Laffer-Kurve kann die genaue Form und der exakte Ort der Aktiv-Passiv-Kurve nicht gefunden werden. Das Papier kann also allenfalls als Anstoß für eine weitere Diskussion durchgehen - der bombastischen Überschrift zum Trotz.
Wie wird die Aktiv-Passiv-Kurve aussehen?
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