Gefühlt befinden wir uns seit gut einem halben Jahr in der Krise. Ein „harter“ Brexit droht zum Basisszenario für die Akteure in der Wirtschaft und der Politik zu werden, die USA und China befinden sich auf Konfrontationskurs, und auch andernorts drohen Handelskonflikte die liberale Ordnung, die sich nach den Zweiten Weltkrieg etabliert hat, durcheinanderzubringen. Alle diese Störfaktoren könnten das Wachstum der Weltwirtschaft ausbremsen. Mit unabsehbaren Folgen für Verbraucher und Unternehmen – und natürlich auch deren Gewinne. Es erscheint derzeit so, dass einzig die Notenbanken als letzter Fels in der Brandung stehen – sie sind entschlossen, die „alte Ordnung“ mit den Mitteln der Geldpolitik – und mehr – aufrecht zu erhalten.
Mit dieser hochgradig spannenden Melange sehen sich Anleger heute konfrontiert. In unseren monatlichen Fondsabsatzberichten können wir das Verhalten der Investoren in Europa taxieren und auf ihre Stimmungslage schließen. Anleger halten sich in diesem Jahr mit Käufen bei Aktien zurück. Zwar verbuchen Index-Aktienfonds Zuflüsse, aber da aktiv verwaltete Aktienfonds Abflüsse verzeichnen, würde ich von einem Substitutionseffekt sprechen und nicht von wirklich „frischem“ Anlegergeld.
Ganz anders sieht es bei Rentenfonds aus. Sie werden regelrecht mit Geld überflutet, und zwar angefangen mit Fonds für Staatsanleihen, aber vor allem Schwellenländer-Anleihen und riskantere Fonds für Unternehmensanleihen werden gekauft, als gäbe es kein Morgen mehr. Doch die Zuflüsse in riskante Bonds sind im Kontext des Marktzinses zu sehen. Der ist in weiten Teilen Europas negativ. Wenn Anleger also riskante Fonds kaufen, ist ihnen nicht zwingend auch Risikoappetit zu unterstellen – wir leben in interessanten Zeiten!
Auf die Flows in Geldmarktfonds und Gold-ETFs achten
Die zuletzt hohen Zuflüsse in Geldmarktfonds und Gold-ETFs geben ein mutmaßlich ehrlicheres Bild der Anlegerstimmung. Cash-Fonds werden typischerweise in Krisenzeiten gekauft, und, auch wenn der Goldpreis eine aktienähnliche Volatilität aufweist, so gilt Gold als Reservewährung.
Halten wir also fest, dass die Anlegerstimmung heute nicht gut ist. Auch die Optionsmärkte zeigen, dass viele Investoren nervös sind. Dafür gibt es auch gute Gründe. Doch das Bild ist nicht vollständig. Denn es gibt auch Gründe für Optimismus. Es gilt also, abzuwägen. Das wollen wir hier tun.
Fangen wir mit einer trivialen Diagnose an. Die Lage an den Märkten ist keinesfalls düster. Tatsächlich haben sich die Kapitalmärkte in diesem Jahr als grundsolide erwiesen. Unbenommen gelegentlicher Rücksetzer sind die Aktienkurse ordentlich gestiegen; die Kursverluste des Jahres 2018 sind überwiegend wettgemacht worden. Bei Rentenpapieren sehen wir sogar eine regelrechte Hausse.
Es ließe sich also die These vertreten, dass sich das bekannte Zusammenspiel fortsetzt: Die Aktienmärkte halten sich stabil bis freundlich, und die Notenbanken halten angesichts des Fehlens jeglicher Inflationssignale ihre Geldpolitik weiter auf expansivem Kurs, um das schwächelnde Wirtschaftswachstum zu bekämpfen. Insgesamt bleiben die Renditen an den Rentenmärkten (aus unterschiedlichen Gründen) unter Druck.
Entwarnung von der Bewertungsfront
Das bringt uns zur Frage nach der Bewertung der Aktienmärkte. Eine für viele Anleger möglicherweise erstaunliche Erkenntnis ist, dass die Bewertungen günstig sind, wie unsere Heat Map unten zeigt. Mit der Ausnahme Australiens ist die Karte tiefblau eingezeichnet. Das signalisiert eine Unterbewertung von mindestens fünf Prozent. Die Rechnung basiert auf unserem Aktien-Research, das den fairen Wert von börsennotierten Unternehmen taxiert. Die Karte aggregiert die Bewertungen der Aktien der globalen Märkte kapitalgewichtet im Spiegel der jeweiligen Morningstar Länder-Indizes.
Grafik: Die Bewertungen der internationalen Aktienmärkte Anfang September
Natürlich gibt es graduelle Unterschiede. In den USA ist die Sicherheitsmarge nicht groß – der US-Aktienmarkt weist ein Kurs-/Fair Value Verhältnis (KFVV) von 0,93 auf. Diese Ratio besagt, dass US-Aktien (kapitalgewichtet) Anfang September um sieben Prozent unterbewertet sind.
Andere Märkte sind deutlich günstiger. Der Aktienindex Morningstar Österreich weist ein KFVV von 0,67 auf. Der österreichische Markt ist also um 33 Prozent unterbewertet. Aktien in Deutschland sind um 23 Prozent unterbewertet, und der Morningstar Schweiz Index ist um acht Prozent unterbewertet. Auch an den Emerging Markets sind die Unternehmen günstig zu haben. Die Indizes für China, Brasilien, Russland sind um gut 30 Prozent unterbewertet, Südafrika-Aktien notieren sogar um 36 Prozent unterhalt ihres fairen Werts.
Sind also die Ampeln auf grün? Sollten Investoren diese Gemengelage zum Anlass nehmen, ins Risiko zu gehen? Für Langfristinvestoren ist die Antwort einfach: Wer einen Anlagehorizont von 15, 20 Jahren oder länger vor sich hat, sollte in jedem Fall unverdrossen und stetig investieren und sein Portfolio weiter mit Aktien bestücken. Sorgen über den Brexit oder Handelskonflikte sollten Langfristinvestoren nicht belasten.
Doch auch Investoren, die einen kürzeren Anlagehorizont haben oder risikoscheu sind, sollten sich überwinden und nicht vor Aktien zurückschrecken. Zwar ließe sich argumentieren, die Unternehmensgewinne könnten morgen ganz anders aussehen. Gingen die Gewinne deutlich zurück, sähen unsere Bewertungskennzahlen anders aus. Dann wären die attraktiven Bewertungen von heute Makulatur.
Aktienbewertungen können heute einen Aufschlag vertragen
Man muss wissen, dass jegliche Bewertungskennzahl, die den Unternehmenswert ins Verhältnis zum Marktpreis setzt, von zwei höchst unsteten Variablen abhängt; vom Wert und vom Preis. Man dividiert den Zähler durch den Nenner, und fertig ist die Bewertungskennzahl. Heute ist der Wert im Verhältnis zum Preis hoch und die Bewertungen sind entsprechend moderat.
Ändern sich die Rahmenbedingungen für die Unternehmen, wird sich das unweigerlich auf ihre Geschäftstätigkeit auswirken. Und hier liegt der Hase im Pfeffer begraben. „Events“ wie der Brexit oder der Zusammenbruch der liberalen Weltwirtschaftsordnung lassen sich nicht seriös modellieren. Kein Mensch weiß heute, welche Folgen derartige Krisen zeitigen werden – geschweige denn, ob sie überhaupt eintreten werden!
Bleiben die klassischen Frühwarnsysteme, etwa die Frühindikatoren wie die Einkaufsmanager-Indizes (PMI). Hier sind die Signale widersprüchlich. Zwar zeigen die stark beachteten PMIs für die Industrie weltweit nach Süden. In den USA sind sie noch im expansiven Bereich, aber der Trend zeigt seit März nach unten. In vielen europäischen Staaten, vor allem in Deutschland, deuten die Indizes auf eine Kontraktion. Doch das ist nicht das vollständige Bild.
Die Einkaufsmanager-Indizes für Dienstleistungen sind weltweit unverändert im positiven Bereich, übrigens auch in Deutschland. Aufgrund der großen Bedeutung des produzierenden Gewerbes in Deutschland verwundert nicht, dass die deutsche Wirtschaft sich in einer so genannten technischen Rezession befindet, was bedeutet, dass das Bruttoinlands-Produkt zwei Quartale in Folge geschrumpft ist. Aber das BIP-Minus von 0,2 Prozent sollte man nicht überbewerten, zumal die Eurozone per Saldo wächst. Eine Rezession sieht anders aus.
Fazit
Wie man es also dreht und wendet: Angesichts des gemischten Bildes, das von der Konjunkturseite kommt, ist zwar Achtsamkeit angesagt, aber es gibt keinen Grund zur Panik. Anleger sollten klare Kante zeigen und ihre Portfolios auf Kurs halten.
Es gibt gute Gründe, warum die Aktienkurse nicht abschmieren müssen, ja es gibt sogar gute Gründe, warum sie steigen könnten. Das hat einmal mit den mangelnden Alternativen zu tun. Solange die Renditen an den Rentenmärkten unter Druck bleiben, sind Aktien die einzige Asset Klasse, die langfristig positive Performance-Aussichten verspricht. Deshalb wäre auch eine Stagnation der Unternehmensgewinne oder auch ein leichter Rückgang kein Drama. Dann käme es zu einer so genannten Multiples Expansion, also einer Ausweitung der Bewertungen. Angesichts der günstigen Bewertungen heute wäre ein Abschmelzen der Sicherheitsmarge kein Drama.
Wem dennoch unwohl ist und dessen Portfolio ohnehin ein Rebalancing benötigt, sollte die Gelegenheit nutzen und das strategische Gleichgewicht im Portfolio wiederherstellen. Aber Anleger müssen mit dem Gefühl der Unsicherheit leben – und einfach investieren. Unsicherheit ist nun einmal das Los aller Aktienanleger - zu jeder Zeit. Das Treiben an den Märkten vollzieht sich immer unter der Bedingung der Unsicherheit, egal, ob Anleger ein Goldilocks- oder ein Rezessionsszenario spielen.
Die Analysen in diesem Artikel basieren auf unserem Tool für professionelle Anleger. Weitere Informationen zu Morningstar Direct erhalten Sie hier.
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