Die meisten Bürger führen getrennte Konten, wenn es um finanzielle Angelegenheiten geht. Girokonto, Sparkonto, Wertpapierdepot, Lebensversicherung, Ansprüche aus der gesetzlichen Rentenversicherung: Allzu oft werden diese Posten auch als getrennte Posten „gedacht“ - und entsprechend getrennt bewertet. Das ist ein Fehler, der sich allerdings auch im Finanzvertrieb fortsetzt. Auch hier haben sich getrennte Begriffswelten etabliert, typischerweise entlang der Unterscheidung zwischen Fonds und Versicherungen. Beispiele hierfür gibt es viele. Sie kennen bestimmt die vermeintlichen Gegensatzpaare: „Investment versus Sparen“, „Anlegen versus Altersvorsorge“ oder „Vorsorgen versus Sparen“.
Diesen Fehler hat man in der Finanzforschung mit einem festen Begriff belegt: mental accounting. Bei der mentalen Buchhaltung werden zusammenhängende Vorgänge zu Unrecht separat geführt. Zwecks Vereinfachung und zur besseren Übersichtlichkeit „führen“ Anleger „getrennte Bücher“ über ihre verschiedenen Vermögensformen. Das kann gravierende Fehlallokationen bewirken.
Kein Portfolio ist eine Insel
Anleger sollten die Vermögenswerte, die sie besitzen, nicht nur zusammenfassen, sondern auch nach ihrer Funktion eingruppieren. Wer etwa eine kapitalbildende Lebensversicherung abgeschlossen hat, kann es sich leisten, eine höhere Aktienquote im Depot zu fahren, als ein Anleger, der keine Lebensversicherung besitzt. Denn Lebensversicherungen in ihrer klassischen Variante haben ein Bond-ähnliches Profil – sie bringen jährliche Kupons (die thesauriert werden), und am Laufzeitende steht die Auszahlung eines Mindestbetrags. Lebensversicherungen sind funktional gesehen also Bonds.
Umgekehrt können sich vermeintlich konservative Investmentvehikel, wie diversifizierte Rentenfonds oder defensive Mischfonds, als sprichwörtliche Wölfe im Schafsfell entpuppen. Denn oft haben Fondsmanager angesichts des tiefen Renditeniveaus an den Bond-Märkte den eigentlich defensiven Investments zunehmend riskante Wertpapiere beigemischt. Häufig finden sich Hochzins-Anleihen oder strukturierte Bonds wie ABS unter den Holdings dieser Fonds. Das muss nichts Schlimmes sein, führt aber zu veränderten Rendite-Risiko-Profilen, über die Anleger Bescheid wissen müssen.
Doch die Erkenntnis, wonach kein Portfolio eine Insel ist, führt zu noch weitreichenderen Konsequenzen. Man muss nicht nur den Immobilienbesitz und die betriebliche Altersversorgung in die Gleichung einbeziehen, sondern auch die gesetzliche Rente und das Humankapital. Für viele Menschen, die kurz vor dem Ruhestand sind oder bereits pensioniert sind, ist die gesetzliche Rente die wichtigste Position auf ihrer Bilanz. Aktuell beläuft sich das Bruttorentenniveau in Deutschland auf 46 Prozent des zuletzt erzielten Einkommens. Das ist zwar deutlich weniger als im Erwerbsleben zuletzt herumkam, ist aber „sicher“ - im Sinne von stetigem Einnahmestrom. (In den nächsten Jahren wird diese Versorgungsquote zwar nach und nach zurückgehen, dürfte aber auch mittelfristig mit rund 40 Prozent die größte Einkommensquelle deutscher Rentner bleiben.)
Umgekehrt haben die meisten jungen Menschen nur geringe Rentenanwartschaften erworben. Auch dürften die meisten kein signifikantes Vermögen angespart haben. Das wichtigste Asset, das sie besitzen, ist ihr Humankapital. Doch wie ist das zu bewerten? Das hängt stark von der individuellen Situation zusammen, aber zwei Faustregeln lassen sich doch formulieren: Wer in einer zyklischen Branche tätig ist, sollte sein Humankapital eher dem Aktienmarkt zuordnen. Das bedeutet, dass die restlichen Portfolio-Bestandteile konservativ ausgerichtet sein sollten. Wer dagegen in einer Branche tätig ist, die wenig vom Auf- und Ab der Konjunktur abhängig ist, bewegt sich in Richtung Bonds. Vollends im Anleihesegment ist angekommen, wer im Staatsdienst als Beamter tätig ist. Er ist unkündbar, und sein Einkommensstrom ist sicher. Das bedeutet, dass das Wertpapierportfolio aktienlastiger sein kann. Auf den Punkt gebracht: Banker sollten Anleihen kaufen, Lehrer Aktien.
Bogle: Rente bietet Kupons und auch Inflationsschutz
Diese ganzheitliche Portfoliostrukturierung ist nicht unumstritten, aber Finanzplaner werden typischerweise derart vorgehen. Auch Jack Bogle, der im Januar 2019 verstorbene Gründer des US-Fondshauses Vanguard, hat argumentiert, dass Anleger die Rente als Teil der Bond-Komponente ihrer Portfolios betrachten sollten. Rentenzahlungen seien Ertragsausschüttungen ähnlich. Er präzisiert, dass sie mit einer inflationsgeschützten Anleihe vergleichbar seien, weil sie inflationsbereinigt seien. (In Deutschland ist dieser Zusammenhang indirekt vorhanden, da die Rentenentwicklung an die Lohnentwicklung gekoppelt ist.) Rentner könnten demzufolge Aktien etwas höher gewichten als es ihre persönliche Vermögensallokation eigentlich vorsieht, so Bogle.
Auch David Blanchett, Leiter Retirement Research bei Morningstar, ist tendenziell für eine derartige Herangehensweise. „Bei den Sozialleistungen handelt es sich um eine Staatsanleihe und einen Teil des Gesamtvermögens einer Person.“ Deshalb sei sie im Portfolio als anleiheähnlicher Vermögenswert zu betrachten. Aus einer Abhandlung, die Blanchett zusammen mit Paul Kaplan verfasst hat, geht hervor, dass die Gesamtvermögensallokation, die Anlagewerte sowie Pensionen, Sozialleistungen und das Humankapital einer Person eine der Strategien ist, die Berater anwenden können, um die Einkommensströme ihrer Kunden im Ruhestand zu erhöhen.
Oder doch kein Bond?
Aber nicht alle Experten sind sich darin einig, dass die Rente als Anleihe zu behandeln ist. Manche Experten räumen zwar ein, dass Sozialleistungen insofern einer Anleihe ähnelten, als sie regelmäßige (teilweise inflationsbereinigte) Barmittelströme versprechen. Allerdings habe die gesetzliche Rente kein Fälligkeitsdatum; die Zahlungen werden fortgeführt, solange der Anspruchsberechtigte lebt. Das macht die Sache höchst unsicher. Sozialleistungen bei frühzeitigem Tod seien weitaus weniger werthaltig als bei einem 95-Jährigen, der bereits 30 Jahre lang Rente beziehe.
Abhängig vom Rentenbeginn und der Lebensdauer weiche der Wert der Leistungen, die eine Person erhält, um mehrere hunderttausend Euro ab. Das macht Sozialleistungen zu einem schwer zu bewertenden Vermögenswert, was es wiederum verkompliziere, die Rente mit einem bestimmten Prozentsatz in die Portfolioallokation einzubeziehen.
Die Festlegung des tatsächlichen Werts von Rentenleistungen wird durch die Gefahr von Leistungskürzungen für jüngere Generationen, wie es etwa in Deutschland bis zum Jahr 2030 zu erwarten ist, noch komplizierter. Wenn das Leistungsniveau gekürzt wird, könnte der Wert der Leistungen um einiges geringer ausfallen als vorab kalkuliert.
Selbst aus einer fundamentaleren Sicht heraus sollten Sozialleistungen nach Ansicht von Kritikern nicht als Teil eines Rentenportfolios eines Anlegers betrachtet werden, da die Empfänger von Sozialleistungen nicht dasselbe Maß an Kontrolle hätten wie Inhaber anderer Vermögenswerte: Man kann weder das Fälligkeitsdatum noch den Zinssatz wählen, man kann nicht entscheiden, wie riskant dieser Einkommensstrom sein wird und somit eine höhere Risikoprämie erhalten, man kann seinen Einkommensstrom nicht (wie bei einem Wertpapiertausch) durch einen anderen ersetzen, man kann den Einkommensstrom nicht verkaufen, man kann keine Auszahlung einer Pauschalsumme beantragen und wenn man gestorben ist, fließt kein Kapital in den Nachlass ein (wie es bei Versicherungen der Fall ist).
Es gibt viele Umsetzungsfragen
Andere Finanzplaner argumentieren, dass einer der wichtigsten Gründe, die gesetzliche Rente nicht als Anleihe zu betrachten, etwas mit dem Thema Behavioral Finance zu tun habe, also mit der Verhaltenspsychologie. Einer der Hauptvorteile von Anleihen sei, dass sie als Gegengewicht für die riskanteren Segmente des Portfolios dienen – Anleihen steigen üblicherweise oder verzeichnen zumindest keine so starken Kursverluste, wenn die Aktienkurse fallen. Dies wiederum trägt dazu bei, dass Anleger nicht panisch verkaufen, wenn ihre Aktienanlagen einbrechen, weil ihr Portfolio insgesamt relativ stabil durch die Krise kommt.
Wenn man ein Vermögensallokationsmodell einsetzt und die Rente als Anleihe berücksichtigt, kann das Portfolio eine wesentlich größere Aktienallokation vertragen. Aber viele Anleger dürften sich in einer Krise nicht dadurch beruhigen, dass sie ihre künftigen Rentenansprüche gegen aktuelle Verlustpositionen auf der Aktienseite gegenrechnen; künftige Rentenströme sind physisch nun einmal nicht im Portfolio sichtbar.
Deshalb mahnt auch unser Altersvorsorge Experte Blanchett, dass die Betrachtung der Bond-ähnlichen Merkmale von Rentenzahlungen nicht automatisch eine höhere Aktiengewichtung zur Folge haben muss. Der Umstand, dass Rentenzahlungen einer Anleihe ähnlich sind, bedeute nicht zwangsläufig, dass man sein Portfolio aggressiver ausrichten sollte.
Vermutlich dürften viele Finanzplaner einen hybriden Ansatz anwenden. Wenngleich man die Rente nicht als Bestandteil der Anleihe-Quote betrachtet, wären dennoch höhere Aktiengewichtungen möglich. Finanzplaner können sich den Barwert der Sozialleistungen und Pensionen ansehen und überlegen, was die Person im Ruhestand benötigen könnte, um ihre Lebenshaltungskosten zu decken. Würde ein ausreichend hoher Einkommensbedarf zur Deckung der Kosten ermittelt, wäre die Erhöhung der Aktienquote eine Option.
Doch diese nüchternen Überlegungen führen am Ende doch wieder zu Fragen wie den persönlichen Umständen der Investoren, zur Risikotragfähigkeit und den Risikopräferenzen. Pauschallösungen sind deshalb fehl am Platz - wohl aber die Erkenntnis, dass ein Portfolio keine Insel ist und auch andere Vermögenswerte, materielle und immaterielle, in die Rechnung einzubeziehen sind. Wer diesen gedanklichen Startpunkt erreicht hat, hat zumindest den ersten richtigen Schritt in Richtung ganzheitlicher Betrachtung seiner Vermögenssituation gemacht.
Dieser Beitrag ist ein Teil der Themenwoche zu Anleihen und Anleihefonds 2019. Hier kommen Sie zum Übersichtsartikel, der auch auf alle Artikel verlinkt.
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