Investoren, aber auch viele Marktbeobachter werden seit Monaten vor ein Rätsel gestellt, das sich mit dem zunehmendem Verlauf des Sommers immer rätselhafter gibt: Wie kann es sein, dass die Preise so gut wie aller Risiko-Assets gleichzeitig steigen? Wer Aktien oder Anleihen oder Gold kauft, hat ein klares Szenario. Alle drei Szenarien zusammen genommen schließen sich aus.
Unter den Bedingungen einer Weltwirtschaftskrise historischen Ausmaßes stellt sich die Frage: Was sieht der eine Anlegertyp, das der andere übersieht? Wer hat Recht? Der Goldbug? Der Anleihenkäufer? Der Eigenkapital-Investor?
Aktien-Anleger haben sich auf ein „V“ festgelegt
Blicken wir etwas hinter die Erwartungen und Szenarien der drei Anlegertypen. Aktien haben eine Tal- und Bergfahrt in diesem Jahr hinter sich. Zu Beginn der Corona-Krise fielen die Aktienkurse weltweit dramatisch. Zwischen Ende Februar und Ende März brachen manche Märkte um ein Drittel ein. Seit Ende März sind die Aktienkurse allerdings wieder stark gestiegen. In den USA haben die maßgeblichen Indizes die Verluste aus dem ersten Quartal bereits egalisiert. In China wurden sogar neue Höchststände markiert.
Selbst in Europa, wo die Aktien-Erholung nicht so ausgeprägt ausgefallen ist, haben sich die Kurse merklich von ihren März-Tiefs gelöst. Dieses Verhalten setzt ein Szenario der linearen Konjunkturerholung, das vielzitierte „V“, voraus.
Bond-Investoren erwarten eher ein „L“
Deutsche Bundesanleihen wie auch die Anleihen anderer Industrieländer haben im Sommer ordentlich haussiert. Am 19. August lag die Rendite deutscher Bundesanleihen bei -0,49 Prozent. Mit -0,83 Prozent lag die Umlaufrendite zwar Mitte März deutlich darunter, sie war aber Anfang Juni mit -0,28 aber auch schon mal deutlich höher. Gemessen am Kursverlauf bei Staatsanleihen haben sich Konjunkturerwartungen der Bond-Investoren in den vergangenen Monaten also eingetrübt.
Renten-Anleger sind notorische Pessimisten – vermutlich wäre ein „L“-förmiger Konjunkturverlauf mit einer langfristigen desinflationären Preisentwicklung am ehesten mit dem Kursverlauf von Anleihen in Einklang zu bringen.
Mit viel Gold für die allgemeine Katastrophe gut gerüstet
Gold hat einen rasanten Preisanstieg in diesem Jahr gesehen. Lag der Preis für die Feinunze Anfang des Jahres noch bei 1.500 US-Dollar, so stieg das Edelmetall (nominal) Anfang August auf das historische Höchstniveau von 2.000 US-Dollar. Viele Investoren sehen Gold als Katastrophen-Hedge und/oder als Reserve-Währung gegen eine galoppierende Inflation.
Anleger, die heute den Goldpreis hochtreiben, dürften von der Pandemie und ihren Folgen verunsichert sein. Wer Gold kauft, hat nicht nur Angst vor einem erneuten Aktien-Crash, sondern dürfte zugleich die Rückkehr der Inflation erwarten, die durch die geldpolitischen Maßnahmen der Notenbanken weltweit befeuert werden könnte. Anhänger eines derartigen Doom-und-Gloom-Szenarios setzen auf das, was schon in der Antike glänzte: den Aureus der römischen Kaiser im modernen Kleid – in Gestalt von Gold-ETCs und -ETFs. Auch Goldminen-Aktien und sogar Kryptowährungen gehören zum Repertoire der so genannten Perma-Bären.
Aktien-Anleger als Warren-Buffett-Musterschüler
Doch wie realistisch oder unrealistisch sind die Szenarien der drei idealtypischen Anlegergruppen? Und: Lassen sie sich wirklich nicht in Einklang miteinander bringen?
Im Grunde verhalten sich Aktienanleger in diesen Zeiten wie perfekte Langfristinvestoren. Sie lösen sich von den Einbrüchen der Quartalszahlen der Unternehmen, die zwischen April und Ende Juni tatsächlich katastrophal ausfielen. Sie blicken nach vorn.
Der Wert eines Unternehmens an der Börse heute entspricht der Summe aller Cashflows der Zukunft. Sollte sich die Covid-19 Krise als Ausrutscher, als Einmal-Event, erweisen, dann wäre der Gewinneinbruch im zweiten Quartal 2020 langfristig ein Non-Event. Aktienanleger, die Kurs halten, entsprechen also nicht dem Klischee des Kurzfristinvestors, der nur von Quartal zu Quartal denkt. Solche Anleger verhalten sich vielmehr wie Warren-Buffetts Musterschüler!
Auch wenn die aktuelle Rally von vielen Anlegern verhasst sein dürfte, weil sie an der Seitenlinie stehen, könnte man einen Schritt weiter gehen und unterstellen, dass Aktien-Investoren sogar höchst realistisch an die Sache herangehen. Denn sie differenzieren. Technologie-Unternehmen werden als Gewinner der Covid-Krise gesehen, während einige „alte“ Industrien, aber auch Energie- und Rohstoff-Unternehmen, als Verlierer identifiziert werden. Entsprechend sehen die Kursverläufe während und nach der Covid-19-Korrektur seit März 2020 aus: Die Spreu hat sich vom Weizen getrennt. (Und Gewinner vertragen eine Bewertungsprämie. So viel zum Thema "irrationale Bewertungen"!)
Für die nüchterne Herangehensweise von Aktien-Investoren spricht auch, dass sich die Kurse kleinerer Unternehmen nicht vollständig von ihren März-Tiefs gelöst haben. Aktienanleger handeln auch hier rational, wenn sie große Technologie-Unternehmen kleinen Playern vorziehen. In einer Krise geht es um Solidität, um stabile Geschäftsmodelle, um Wettbewerbsvorteile; es lässt sich durchaus glaubhaft argumentieren, dass die teuren Technologie-Konzerne eine solidere Option sind als, sagen wir, günstige kleinkapitalisierte Unternehmen.
Renten-Investoren: Die rationalen "Willing Loser"
Bei Renten-Investoren sieht es möglicherweise auch nicht so widersprüchlich aus, wie man es auf den ersten Blick vermuten könnte. Bond-Investoren haben traditionell eine pessimistischere Sicht auf die Welt als die Sunny-Boys auf der Aktienseite. Und wer der Wirtschaft schlechtere Chancen auf eine Erholung gibt als der Aktieninvestor, der wird eher einem Deflations- als einem Inflationsszenario nachhängen. Bonds wären dann zwar kein lukratives Geschäft, aber auch nicht zwingend ein verlustträchtiges.
Zudem gibt es jede Menge Bond-Investoren, die nicht als knallharte Nutzenmaximierer agieren. Da sind einmal die Notenbanken, die ihre Bilanzen massiv aufgeblasen haben und Bonds als Reaktion auf die große Krise in großem Umfang vom Markt nehmen, koste es, was es wolle.
Und es gibt noch jede Menge andere Investoren, die Bonds unverändert kaufen, egal, wie stark deren Kurse gestiegen sind. Lebensversicherungen und andere Altersvorsorgeeinrichtungen stehen stellvertretend für die Sparer in den Industrienationen. Sie werden bis zum jüngsten Tag Bonds kaufen. Wenn die Baby-Boomer von der Bühne abgetreten sind, werden ihnen die Angehörigen der Generation X folgen. Die Geburtsjahrgänge des Jahres 1965 werden sich ebenfalls in wenigen Jahren anschicken, ihre Rentenanträge abzugeben. Gespart wird also in den Industrieländern immer!
Mit dem Aureus der Moderne gegen Katastrophenszenarien
Bleibt von den großen Asset-Klassen noch Gold. Was ist mit dem Gold-Investor? Es gibt viele Gründe, Gold nicht zu kaufen. Wie allgemein bekannt, liefert Gold keinerlei Zinsen oder laufenden Erträge. Es handelt sich um ein pures Spekulationsobjekt. Gold hat auch über lange Zeiträume real gesehen viel Wert vernichtet.
Allerdings hat Gold aber auch eine lange Historie als Wertspeicher und wird von vielen Anlegern sogar eher als Versicherung gesehen denn als Investment. Wer Gold kauft, will sich gegen Krisen absichern, die andere Asset-Klassen in Mitleidenschaft ziehen. Das schließt übrigens auch den US-Dollar ein, der sich nicht immun zeigt gegen die politischen und wirtschaftlichen Turbulenzen in den USA heute. Es gibt sogar jede Menge aktienorientierte Anleger, die Gold kaufen, weil es nun mal die Masse macht; sie wollen gut schlafen können, auch wenn sie nicht zwingend dem Lager der "Goldbugs" aus Überzeugung angehöhren.
Fazit: Ein Hoch auf die Fans diversifizierter Portfolios!
Natürlich könnte es so kommen, dass wir Ende des Jahres einen klaren Verlierer unter den drei idealtypischen Anlegern ausmachen können, und dann wird es nicht an schlauen Kommentaren fehlen, warum es so, und nur so, kommen musste. Aber das wären Hindsight-Weisheiten und somit unseriös (Notiz an mich: Keine Rückschau im Dezember vornehmen auf die Entwicklung von Aktien, Anleihen, Gold!)
Daher lavieren wir uns mit einer für manche Leser vermutlich unbefriedigenden Erklärung so durch: Für sich genommen mag der synchrone Anstieg aller Vermögenspreise widersprüchlich anmuten, doch eine Analyse möglicher Motive von Investoren zeigt, dass dem nicht so ist. Alle Anlegertypen handeln durchaus rational.
Der Optimismus der Aktieninvestoren ist genauso plausibel zu erklären wie der Pessimismus der Bond-Anleger, und deren Verhalten läuft folgerichtig konträr zum Verhalten von Goldbugs; die wollen wiederum ihre Portfolios mit einer Art Katastrophen-Hedge gegen mögliche Schwächephasen der beiden anderen Asset-Klassen immunisieren.
Die politischen und geldpolitischen Rahmenbedingungen in unserer Zeit fördern die Bildung von Asset-Preis-Blasen. Und diese müssen nicht platzen. Vermutlich wären Anleger besser beraten, mehr Zeit damit aufzuwenden, diese Rahmenbedingen zu analysieren anstatt sich an die "Wahrheiten" zu klammern, die sie in den 1990-ern in den VWL- oder FiWi-Vorlesungen an den Universitäten gehört haben. Die Zeiten ändern sich, und wir sollten das erkennen - und Neues nicht reflexartig als Vorbote einer nahenden Katastrophe begreifen.
Das obige Argument ließe sich sogar noch weiterdrehen. Viele Anleger diversifizieren ihre Portfolios, indem sie auf alle drei oben genannte Assets setzen. Sie hängen keinem Top-oder-Flop-Szenario nach, sondern sind gewissermaßen Agnostiker. Sie investieren prognosefrei, haben also keine Marktmeinung und diversifizieren mehr oder weniger naiv über mehrere Asset-Klassen, von denen sie sich in Summe auf Portfolio-Ebene Gutes versprechen.
Hinzu kommt, dass es den einheitlichen Anlegertypus nicht gibt. Investoren werden von unterschiedlichen Motivationen geleitet und haben unterschiedliche Fristigkeiten. So gesehen ist der Gleichklang des Preisanstiegs allerorts nur eine Manifestation der unterschiedlichen Ziele, Szenarien und Erwartungen vieler verschiedener Investoren, die kapitalmarktorientiert handeln, im Ergebnis frei nach dem Motto: Es gibt keinen Free Lunch jenseits der Diversifikation.
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