Deutschland, Österreich und die Schweiz verfügen nicht über genug Gasreserven, um den inländischen Bedarf zu decken. Besonders hoch war die Abhängigkeit der drei Länder von russischen Einfuhren.
In der Vergangenheit basierten die europäischen Erdgasimportpreise auf langfristigen Verträgen mit Preisen, die an Erdölprodukte gekoppelt waren. Deutsche Importe aus Russland etwa wurden oftmals mit einer Zeitverzögerung von ein paar Monaten an die Notierungen für leichtes Heizöl Rheinschiene (HEL Rheinschiene) gebunden.
Die Verträge basierten zumeist auf so genannten Take-or-Pay-Klauseln. Das bedeutet, dass der Käufer im Gegenzug zu einem vergleichsweise stabilen Preis verpflichtet ist, den Vertragspreis einer vereinbarten Mindestmenge zu zahlen - auch wenn er das Gas nicht abnimmt.
Mit der durch die EU forcierten Liberalisierung der Energiemärkte hat sich dies sukzessive geändert. Der Gasmarkt brauchte im Vergleich zum Strommarkt zwar eine Weile länger, doch nach und nach bezogen Abnehmer immer mehr Gas auf dem freien Markt, der Anteil der Langfristverträge ging peu à peu zurück.
TTF: Europas wichtigster Großhandelsmarkt für Erdgas
Der wichtigste Großhandelsmarkt in Kontinentaleuropa, auf dem Produzenten, Distributoren, Speicherbetreiber oder auch Netzbetreiber Gas handeln, ist Stand heute die niederländische Title Transfer Facility (TTF), ein virtueller Handelsplatz im Marktgebiet des niederländischen Ferngasnetzbetreibers Gasunie.
Die Niederlande sind ein großer Player im europäischen Gasmarkt: vergleichsweise hohe Erzeugungskapazitäten – nicht nur im Groningen-Feld – und eine gute Import- und Weiterverteilungsinfrastruktur helfen da. So verfügt das Land auch über eine gute Anbindung an Großbritannien, ehemals wichtiger Lieferant für Kontinentaleuropa (seit vielen Jahren ist UK inzwischen Nettoimporteur) über die BBL-Pipeline. Anfang September empfingen die Niederlande zudem über einen neuen schwimmenden Terminal für verflüssigtes Erdgas (LNG) die erste Ladung im Hafen von Eemshaven.
Ein anderes historisch wichtiges Drehkreuz in Kontinentaleuropa ist das belgische Zeebrugge, das bereits 1987 seinen LNG-Terminal eröffnete – und via Interconnector-Pipeline mit dem ehemals wichtigen Lieferanten Großbritannien verbunden ist. In Großbritannien ist derweil der National Balancing Point (NBP) das Maß der Dinge. Das österreichische Baumgarten, betrieben von Gas Connect Austria, ist ebenfalls eine wichtige Erdgasdrehscheibe – vor allem eben auch durch die (einstige) Anbindung an russische Lieferungen. Der virtuelle Handelspunkt, den die Österreicher etablierten, heißt Central European Gas Hub (CEGH).
Der deutsche virtuelle Handelspunkt heißt Trading Hub Europe (THE). Einst in mehr als ein Dutzend einzelne Marktgebiete unterteilt, ist der Betreiber seit dem 1. Oktober 2021 nun Marktgebietsverantwortlicher für das gesamte deutsche Marktgebiet THE. Das Unternehmen spielt zudem eine wichtige Rolle, um die deutschen Gasspeicher zu befüllen. Aber dazu mehr weiter unten.
Aber was ist nun „der Gaspreis“?
Zurzeit schwirren viele Begriffe rund um den Gaspreis herum. Natürlich ist der Gaspreis, den der Haushalts- oder Industriekunde zahlt, grundlegend zu unterscheiden von dem, was das Stadtwerk oder der Distributor auf dem Großhandelsmarkt bezahlt (denken Sie an Steuern, Netzentgelte oder Gebühren jeder Art). Aber generell funktioniert der Großhandel so:
An der TTF (nehmen wir dies als Beispiel, da es der europäische Leitmarkt ist) kaufen / verkaufen die jeweiligen Stakeholder Erdgas entweder Spot oder auf Termin. Spot heißt zur Lieferung in den kommenden Tagen, während Terminkontrakte für die Zukunft geschustert werden. Üblich sind zum Beispiel Verträge für Gas zur Lieferung im jeweils kommenden Monat (Frontmonat), zu diesem Zeitpunkt also der Oktober; oder zum nächsten Kalenderjahr (das wäre dann also das Kalenderjahr 2023). Diese Art von Kontrakten nennen sich Forwards, und sie werden außerbörslich (Over the counter, OTC) zwischen den Marktteilnehmern gehandelt.
Natürlich gibt es, wie bei vielen Commodities, auch Börsen, die entsprechende Derivate auf die jeweiligen zugrundeliegenden Produkte aufgelegt haben – also etwa TTF Frontmonat, NBP Winter 2022/2023, THE Kalenderjahr 2023 oder ZEE Q1 2023. Führende Börsen sind die niederländisch-britische ICE Endex oder die deutsch-französische EEX Powernext. Und, im Unterschied zum OTC-Markt, mischen an den Börsen durchaus auch Finanzinstitute mit.
Aber kurzum: Wenn Sie zurzeit vom „europäischen Gaspreis“ lesen, ist die Chance sehr hoch, dass der Preis für den TTF Frontmonat gemeint ist – also den Preis, auf den sich die Marktteilnehmer für Gas zur Lieferung im kommenden Monat geeinigt haben.
Warum sinkt Gaspreis gerade?
Der exorbitante Anstieg an den europäischen Märkten ist durch den Wegfall der russischen Gaslieferungen nach Europa zu begründen. Denken Sie an den Wegfall der Nordstream 1-Lieferungen: Am 26. August, wenige Tage vor der Wartung (so nannte es Russlands Gasunternehmen Gazprom) erreichte der Oktoberpreis an der TTF fast 347 EUR/MWh. Inzwischen ist er auf „nur noch“ 187,49 EUR/MWh abgesackt. Und noch mal zum Vergleich: am 23. Februar, also dem Tag vor Russlands Einmarsch in der Ukraine, waren unter 90 EUR/MWh fällig gewesen.
Aber was macht eigentlich Russland mit dem ganzen Gas, das es nun nicht nach Europa schickt? Abfackeln. Und künftig soll es nach China umgeleitet werden, doch erst einmal muss die Infrastruktur her. Die geplante Pipeline Kraft Sibiriens 2 soll künftig nach Osten leiten, was über Nord Stream 2 nicht nach Westen fließen wird.
Aber zurück zu der Frage: warum fiel der Gaspreis zuletzt? Vielleicht kann man es so zusammenfassen: die Panik lässt nach. Hintergrund sind höhere Einfuhren, etwa von Pipelinegas aus Norwegen und verflüssigtem Erdgas (LNG) aus außereuropäischen Ländern, und die hohen Füllstände der europäischen Speicher.
Die Europäische Union hat ihr Gasspeicherziel zwei Monate im Voraus erreicht. Das Ziel war, dass die Speicher in diesem Jahr bis zum 1. November zu 80 Prozent gefüllt sein müssen. Für Deutschland gilt, dass die Speicher am 1. Oktober zu mindestens 85% und am 1. November zu mindestens 95% voll sein sollen. Aktuell sind die deutschen Speicher zu knapp 89% gefüllt, geht aus den Daten der europäischen Gasspeicher-Betreiber hervor. Die Gasmenge bei einem Füllstand von 95% entspricht etwa dem bundesweiten Verbrauch der Monate Januar und Februar 2022.
„In diesem Zusammenhang scheint der Wert des TTF von über 300 €/MWh keinerlei Bezug zum realen Gasmarkt zu haben und daher im Wesentlichen das Ergebnis einer gigantischen Spekulation zu sein", urteilt Salvatore Carollo, ein auf den Öl- und Energiesektor spezialisierter Analyst und Händler sowie ehemalige ENI-Führungskraft.
Die deutsche Regierung will auch Deutschland zum LNG-Importeur machen. Bislang gibt es keine Anlagen dafür, aber die Regierung hat vier Schiffe (Floating Storage and Regasification Unit, FSRU) gechartert, die als vorübergehende LNG-Terminals dienen sollen. Ein fünftes Schiff ist laut Commerzbank von einem privaten Unternehmen gechartert worden.
Die ersten beiden dieser Terminals werden voraussichtlich um die Jahreswende 2022/2023 zur Verfügung stehen. In Wilhelmshaven an der Nordseeküste haben die Bauarbeiten für den schwimmenden LNG Terminal begonnen (siehe Foto). In Brunsbüttel wurde gerade die Anbindungsleitung für den künftigen Gasterminal genehmigt.
Wer kauft das Gas für die deutschen Speicher?
Die Gasunternehmen kaufen Gas zu – vermeintlich - günstigeren Sommerpreisen, um in der Hochsaison Winter Vorräte zu haben. Daran hat sich nichts geändert. Aber was sich geändert hat infolge von Russlands Angriff auf die Ukraine, ist die Gesetzgebung, die eben wieder Trading Hub Europe GmbH ins Rampenlicht rückt. Am 30. April 2022 ist das Gesetz zur Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes zur Einführung von Füllstandsvorgaben für Gasspeicheranlagen in Kraft getreten. Wesentlicher Gegenstand des Gesetzes sind Regelungen zur Befüllung der Erdgasspeicher in Deutschland. Auf Basis dieses Gesetzes beschafft THE seit Anfang Juni 2022 Gasmengen und speichert diese in die jeweiligen Speicher ein.
„THE beabsichtigt die Vorgehensweise bei der Beschaffung zeitnah zu diversifizieren. Dabei plant THE für die Einspeicherung sowie eine spätere Ausspeicherung neben dem Spotmarkt auch den Terminmarkt zu nutzen. Durch den Verkauf am Terminmarkt soll insbesondere erreicht werden, dass ein Teil der ... beschafften Gasmengen dem Markt auf einer preislich abgesicherten Basis zur Verfügung gestellt wird“, so das Unternehmen. „THE erwartet, dass hierdurch insbesondere während der Ausspeicherphase die Liquidität am Handelspunkt THE gefördert werden kann.“
Gaspreise waren schon vor Februar hoch
Wie mein Kollege Valerio Baselli betont, begann der Preisanstieg bereits im vergangenen Jahr. "Letztes Jahr erlebten wir das, was ich den perfekten Sturm auf dem Gasmarkt nannte," sagt Massimo Nicolazzi, Professor für Energieökonomie an der Universität Turin.
"Ein heißer Sommer mit vielen Klimaanlagen und Speichern, die sich für den Winter langsamer als üblich füllten; außerordentliche Wartungsarbeiten an den Pipelines nach Covid-19, die zu Versorgungsproblemen führten, sowie einige Infrastrukturausfälle und Brände. Nicht zu vergessen ist die schwache Leistung anderer Energiequellen: Brasilien, wo es praktisch keine Wasserkraft gibt, und England, wo der Wind nicht weht. Und dann die chinesische Nachfrage, die im zweiten Quartal 2021 ein Allzeithoch bei den Importen erreichte. Kurzum, alle Voraussetzungen für eine Marktexplosion waren schon lange vor dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine gegeben”.
Schauen wir uns das eine Thema noch einmal genauer an – die Gasspeicher. Dass sich die Speicher langsamer als üblich füllten, würde definitiv auf den größten deutschen Gasspeicher Rehden zutreffen, der – wie der Zufall so will – damals in der Hand der russischen Gazprom war.
Im Frühsommer hat die Bundesnetzagentur den Speicher als Treuhänderin übernommen. THE befüllt besagten Porenspeicher nun und kauft hierfür Gas auf dem freien Markt ein. Aktueller Füllstand sind laut Gas Infrastructure Europe immerhin stolze 75% - der Speicher war, auch bereits im vergangenen Sommer, wenn die Vorräte normalerweise befüllt werden, untypisch leer. Dies, so bemerkten Marktteilnehmer schon damals, konnte als Versuch Russlands interpretiert werden, die Notierungen hochzutreiben.
Die Rolle der Spekulation
Gasanalylst Salvatore Carollo sieht auch Spekulationen als Grund für den Preisanstieg. Ihm zufolge funktioniert das Gaspreisbildungssystem an der TTF nicht. Es seien Spekulanten unterwegs.
So gibt es in London die Börse, an der täglich Verträge über den Kauf und Verkauf von Erdöl im Wert von etwa 2 Billionen Dollar gehandelt werden, so der Analyst mit Blick auf die an der ICE gehandelten Kontrakte auf die Nordsee-Rohölsorte Brent. "Jeder Ölhändler ist jederzeit in der Lage, Käufe und Verkäufe sowie Risikoabsicherungsgeschäfte zu tätigen, indem er sich die nötige Liquidität beschafft."
Im Gegensatz dazu werden an der TTF täglich Kontrakte im Wert von nur 1 bis 2 Milliarden Euro gehandelt, das ist ein Tausendfaches weniger als an der ICE, obwohl die physischen Mengen des verbrauchten Gases mit denen des Öls vergleichbar sind.
Angesichts der geringen Liquidität der TTF, die auf die geringe Zahl der dort tätigen Händler zurückzuführen ist, kann also schon eine kleine Zahl von Kontrakten zu erheblichen Preisschwankungen in die eine oder andere Richtung führen, bemängelt Carollo.
"Europa versucht, einen Ersatz für russisches Gas zu finden, das vor dem Krieg 40% der Importe ausmachte", sagt Allen Good, Energiesektor-Stratege bei Morningstar. "Wir machen keine expliziten Prognosen für den europäischen Gasmarkt, aber wir gehen davon aus, dass sich die Preise langfristig im Durchschnitt auf dem Niveau der LNG-Importpreise und des Breakevens bewegen sollten. Offensichtlich liegt Europa derzeit weit über diesen Niveaus. Es wird jedoch einige Zeit dauern, bis Russland vollständig verdrängt ist, so dass die Preise noch einige Jahre lang hoch bleiben könnten", so Good weiter.
Im vergangenen Juli sagten Morningstar-Analysten voraus, dass Russland zur Förderung militärischer oder geopolitischer Ziele die Gasflüsse auf unerwartete Weise verändern könnte, um die EU aus dem Gleichgewicht zu bringen und gleichzeitig die Gaseinnahmen durch drastische Preiserhöhungen zu maximieren, wie wir es in den letzten Wochen erlebt haben, betont Morningstars Valerio Baselli.
"Als Reaktion auf die anhaltende Krise hat die EU einen umfassenden Plan zur Reduzierung der Gasnachfrage um 15% veröffentlicht, der zwischen dem 1. August 2022 und dem 31. März 2023 in Kraft treten soll. Unseres Erachtens spiegelt der Plan die Tatsache wider, dass die EU in dieser Phase nur begrenzte oder gar keine anderen Optionen hat, die sie nutzen kann. Der Plan ist ein Aufruf zum Handeln, aber die EU behält sich das Recht vor, bei Bedarf eine obligatorische Senkung der Gasnachfrage durchzusetzen“, sagt Stephen Ellis, Energy & Utilities Analyst bei Morningstar.
"Zu den Initiativen gehören der verstärkte Einsatz von Kohle, Kernenergie, Öl oder erneuerbaren Energien, wenn diese verfügbar sind, strengere Vorschriften für die Temperaturen in öffentlichen Gebäuden und Vereinbarungen über die Aufteilung der Versorgung zwischen den Ländern. Die neuen Bemühungen scheinen im Gegensatz zu den Strompreisobergrenzen und den Rückerstattungen an die Verbraucher in einigen Ländern zu stehen, die Anreize für weitere Nachfragereduzierungen schaffen", so Ellis.
Das Problem mit Preisobergrenzen
Zuletzt stieß der Plan der EU, die Preise für Gasimporte zu deckeln, auf den Widerstand der Mitgliedsstaaten, so dass diese Idee nun erst einmal auf die lange Bank geschoben wurde. Die Idee einer Obergrenze für Gaspreise, wie auch immer man sie verstehen mag, wirft Rätsel auf, kommentiert Massimo Nicolazzi. Denn wer werde etwa Algerien sagen, dass Europa einseitig beschlossen hat, weniger als den Marktpreis zu zahlen?
"Und selbst wenn es nur um russisches Gas ginge, wäre das ein Spiel mit dem Feuer. Ich sage nicht, dass es nicht machbar ist, vor allem, wenn es auf europäischer Ebene Einstimmigkeit gäbe, aber es hätte Konsequenzen. Eine davon könnte sein, Moskau zu zwingen, den Hahn wirklich zuzudrehen“, so Nicolazzi.
"Ich habe mich immer dafür eingesetzt, dass, wenn der Gasfluss jemals geschlossen wird, dies durch unsere Entscheidung geschieht und nicht durch die Russlands. Das ist ein Entwicklungsland, für das der Export von fossilien Energien eine Überlebensfrage ist. Das Problem ist, dass jedes Mal, wenn wir uns offen mit der Aussicht auf eine Schließung bedroht oder erpresst fühlen, der Preis in die Höhe geht", betont Nicolazzi. Man denke nur an Moskaus Druck, die Gasmengen in Rubel zu zahlen. „Hätten wir uns an die offizielle EU-Linie gehalten, gäbe es schon seit vielen Monaten kein Gas mehr“, betont Nicolazzi.
Ungewisser Ausblick
"Das einzig Realistische und Machbare sind im Moment die Rationierung der Nachfrage und die Entkopplung von Gas- und Strompreisen", glaubt Nicolazzi. "Wir erleben bereits eine Zerstörung der industriellen Nachfrage mit Hunderten von Unternehmen, die aufgrund der hohen Energiepreise vernachlässigt wurden. Und für die Haushalte könnte die nächste Rechnung ein Schock sein.
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