Trotz der sinkenden Inflation wird die Europäische Zentralbank (EZB) die Zinssätze auf ihrer Sitzung nächste Woche am 11. April voraussichtlich unverändert lassen. Die Mitglieder des EZB-Rats haben bereits früher darauf hingewiesen, dass sie die im Mai anstehenden neuen Lohndaten auswerten müssen, bevor sie eine Entscheidung über eine Zinssenkung treffen.
Der EZB-Rat wird am 6. Juni erneut zusammentreten, eine Woche bevor die US-Notenbank über die Zinssätze entscheidet (12. Juni) und zwei Wochen vor den Sitzungen der Bank of England (BoE) und der Schweizerischen Nationalbank (SNB), die beide am 20. Juni stattfinden (hier finden Sie einen Überblick über die Termine in diesem Jahr).
Seit September 2023 hat die EZB ihren Leitzins - den Hauptrefinanzierungssatz (HRG) - auf dem Rekordhoch von 4,5% gehalten.
Kapitalmärkte erwarten eine Zinssenkung im Juni
Die Geldmärkte rechnen mit einer ersten Zinssenkung um 25 Basispunkte im Juni, der bis Ende 2024 drei weitere Zinssenkungen folgen sollen. Eine aktuelle Reuters-Umfrage ergab, dass rund 90% der befragten Ökonomen mit einer ersten Zinssenkung im Juni rechnen.
"Die Inflation ist deutlich gesunken und befindet sich nun in Reichweite der von den Zentralbanken angestrebten Werte. Das bedeutet, dass es bald keinen Grund mehr geben wird, die Zinsen nicht zu senken, wenn die Inflation tatsächlich unter Kontrolle ist", sagte Michael Field, Marktstratege für Europa bei Morningstar.
Auch die Mitglieder des EZB-Rates haben ihren Teil dazu beigetragen, diese Erwartung zu schüren. Der Gouverneur der spanischen Zentralbank, Pablo Hernandez de Cos, sagte Anfang der Woche gegenüber Bloomberg, dass sein "zentrales Szenario darin besteht, dass es im Juni zu einer ersten Senkung kommen könnte". Der Gouverneur der französischen Zentralbank, Francois Villeroy de Galhau, schloss sich dieser Meinung an und sagte, die Bank werde im Frühjahr mit einer "moderaten" Zinssenkung beginnen, berichtet Reuters.
Nach den Fed-Kommentaren: Werden auch die EZB-Ratsmitglieder zögern?
Auf der anderen Seite des Atlantiks sagte der Chef der Federal Reserve (Fed) Jerome Powell am Mittwoch, dass die hartnäckig hohe Inflation die US-Notenbank davon abhalten könnte, die erwartete Zinssenkung im Juni vorzunehmen.
Und der Präsident der regionalen US-Notenbank Minneapolis, Neel Kashkari, sagte, dass die US-Notenbank die Zinsen in diesem Jahr womöglich gar nicht senken werde, falls die Inflationssenkung ins Stocken gerate.
Dies hat in Europa die Frage aufgeworfen, ob die EZB mit ihrer eigenen Zinsentscheidung fortfahren wird. Die in Frankfurt ansässige Bank hat in der Vergangenheit immer gezögert, geldpolitische Entscheidungen vor ihrem amerikanischen Pendant zu treffen, und sie war auch eine der letzten großen Zentralbanken, die den jüngsten Zinserhöhungszyklus in Angriff genommen hat.
Mehrere Ratsmitglieder, darunter EZB-Präsidentin Christine Lagarde, haben versucht, derartige Überlegungen zurückzuweisen und erklärt, dass für die EZB nur ihre eigenen Inflations- und Wirtschaftsprognosen zählen. Und der Chef der finnischen Zentralbank Olli Rehn betonte: "Die EZB ist nicht der 13. Bundesdistrikt der Fed".
Auch sein Kollege und Chef der österreichischen Zentralbank Robert Holzmann, der als einer der Falken im Rat gilt, sagte der österreichischen Kronen Zeitung, dass die europäische Wirtschaft langsamer wachse als die US-amerikanische und Europa daher die Zinsen vor den USA senken könne.
"Aus heutiger Sicht würde ich sagen: Zinssenkungen werden wahrscheinlich kommen. Wann das sein wird, hängt weitgehend davon ab, wie die Lohn- und Preisentwicklung bis Juni aussieht", sagte er. Je niedriger die Lohnabschlüsse in Europa seien, desto mehr Spielraum gäbe es, die Kreditkosten zu senken, sagte Holzmann gegenüber Reuters.
Er warnte jedoch auch, dass die EZB vorsichtig sein sollte, wenn sie die Zinsen allein senkt. Wenn die Fed die Zinsen im Juni nicht senkt, würde die Marktreaktion auf die politische Divergenz einen Großteil des Nutzens einer EZB-Senkung zunichte machen, sagte er kürzlich in einem Interview mit der Nachrichtenagentur.
Wenn die EZB die Leitzinsen früher und stärker als die Fed senkt, wird sich die Zinsdifferenz zwischen den USA und der Eurozone weiter vergrößern. Dies wird sich unweigerlich auf die Wechselkurse, die Kapitalströme und die Inflation auswirken. Den Anlegern fällt es daher schwer, der EZB ihre angebliche Unabhängigkeit abzunehmen.
Inflation in der Eurozone sinkt, Märkte steigen
Die Inflation in der Eurozone ist im März im Jahresvergleich auf 2,4% gesunken, gegenüber 2,6% im Februar, teilte Eurostat am Mittwoch mit. Volkswirte hatten mit einem gleichbleibenden Wert im Vergleich zum Vormonat gerechnet, so dass die Zahlen eine positive Überraschung waren. "Da die Inflation nun in unmittelbarer Nähe der von der EZB angestrebten 2% liegt, werden die Anleger noch mehr davon überzeugt sein, dass Zinssenkungen in naher Zukunft anstehen", so Michael Field. Die Kerninflation, die die Preise ohne Energie- und Nahrungsmittelkosten angibt, fiel im Jahresvergleich ebenfalls auf 2,9%. Im Februar hatte sie noch bei 3,1% gelegen.
Er fügt hinzu, dass sich die europäische Wirtschaft in vielerlei Hinsicht in einem "Goldlöckchen-Szenario" befindet, d.h. nicht zu heiß und nicht zu kalt. "Sie ist schwach genug, dass die Zentralbanken nicht befürchten müssen, sie durch Zinssenkungen zu überhitzen. Gleichzeitig ist die Wirtschaft immer noch sehr lebendig, wenn man die jüngsten Daten betrachtet, die einen Anstieg der Hypothekenkredite und der Aktivitäten in der Dienstleistungsbranche zeigen. Das bedeutet, dass ein Stimulus in Form von Zinssenkungen das Wirtschaftswachstum effektiv ankurbeln könnte."
Das soll nicht heißen, dass Europa schon wieder auf dem Weg der Besserung ist; es gibt einen Verzögerungseffekt. "Selbst wenn die Zentralbanken bald Zinssenkungen vornehmen, wird es einige Zeit dauern, bis sie sich auf die Wirtschaft auswirken. Die EZB prognostiziert für 2024 nur ein Wachstum von 0,6%."
Die jüngste Rallye an den Aktienmärkten wurde nicht durch eine fulminante Gewinnsaison oder verbesserte Prognosen der Unternehmen ausgelöst, fügt er hinzu. "Objektiv betrachtet kommen wir jedoch einer Zinssenkung immer näher, was die europäische Wirtschaft sicherlich ankurbeln wird."
Das bedeutet, dass es bald keinen Grund mehr geben wird, die Zinsen nicht zu senken, wenn die Inflation tatsächlich unter Kontrolle ist. Am 21. März war die Schweizerische Nationalbank (SNB) die erste große Bank, die die Zinsen überraschend senkte.
Wird die EZB die Zinsen senken? Das denken Ökonomen
Wir haben einige Expertenkommentare zu den erwarteten Auswirkungen der Zinssenkungen auf die Märkte zusammengestellt.
Matthew Ryan, Head of Market Strategy, Ebury
Der disinflationäre Prozess in der Eurozone gewinnt weiter an Fahrt, was die Verantwortlichen der Europäischen Zentralbank sehr begrüßen werden. Nicht nur die Hauptinflationsrate ist auf den niedrigsten Stand seit fast drei Jahren gesunken, sondern auch die Kerninflationsrate ist auf ein Zweijahrestief von unter 3 % gefallen und liegt damit unter den Erwartungen. Dies sollte die politischen Entscheidungsträger zuversichtlich stimmen, dass ihre Maßnahmen weiterhin Früchte tragen und dass eine Lockerung der Geldpolitik bald gerechtfertigt sein wird. Wir halten eine Zinssenkung der EZB im Juni nun für nahezu sicher - die Marktteilnehmer haben dies bereits vollständig eingepreist.
Tiffany Wilding, Economist, und Andrew Balls, CIO Global Fixed Income, Pimco
In der Eurozone sehen wir die Erwartungen an die EZB und das Niveau der 10-jährigen Renditen in unserem wirtschaftlichen Basisszenario im Vergleich zu den USA als weitgehend fair an. Allerdings tendiert die Risikobilanz unserer Ansicht nach zu einer schwächeren Wirtschaftsleistung und einer weiteren Lockerung der EZB. Außerdem bevorzugen wir den US-Dollar gegenüber dem Euro und anderen europäischen Währungen wie dem Schweizer Franken und der Schwedischen Krone, da wir eine weitere wirtschaftliche Ausnahmestellung der USA erwarten.
Robin Winkler, Chief Economist Deutschland, Deutsche Bank Research:
Die frischen Inflationsdaten bekräftigen unsere Erwartung, dass die EZB im Juni eine erste Leitzinssenkung vornehmen wird. Dies ist auch von den Finanzmärkten gänzlich eingepreist. Dass die Zinswende bereits mit der April-Sitzung in der nächsten Woche anstehen könnte, bleibt hingegen höchst unwahrscheinlich und wird auch an den Finanzmärkten nur mit ca. 15% eingepreist. Insgesamt halten wir in 2024 weiterhin eine Lockerung um 125 Basispunkten für realistisch, während die Finanzmärkte hier etwas vorsichtiger bleiben (ca. 90 Basispunkte sind gepreist).
Jan Viebig, Chief Investment Officer, ODDO BHF SE
Wir gehen derzeit davon aus, dass die EZB im Sommer 2024 beginnen könnte, die Leitzinsen zu senken. Wichtig für Anleger ist nicht, in welchem Monat die Zentralbank Zinssenkungen einleitet, sondern dass ein Zinsrückgang in diesem Jahr um vermutlich 50 bis 100 Basispunkte sehr wahrscheinlich ist. Wer derzeit kurzfristig Geld am Anleihemarkt anlegt, wird in Zukunft sein Kapital vermutlich nur noch zu niedrigeren Zinsen wiederanlegen können. Deshalb haben wir die Laufzeit der Anleihen in unseren Portfolios erhöht. Kurzfristige Anlagen in Festgeld sind derzeit mit einem Wiederanlagerisiko verbunden. Es lohnt sich, über längerfristige Geldanlagen nachzudenken
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