Zinssenkungen der Europäischen Zentralbank (EZB) und perspektivisch auch der US-Notenbank, die Hoffnung, dass die deutsche Wirtschaft die Talsohle durchschritten hat und das Schlimmste bei der Inflation ebenfalls hinter uns liegt - all das hat die Kurse am deutschen Aktienmarkt in den vergangenen Monaten angetrieben. Während die deutsche Konjunktur vor sich hindümpelte, konnten zahlreiche der global aufgestellten deutschen Konzerne gute Gewinne einfahren.
Der DAX konnte im ersten Halbjahr auf ein Plus von 9,93% realisieren, das allerdings stark vom ersten Quartal geprägt ist. Im zweiten Quartal hat der Leitindex indes rund 1,5% nachgegeben. Der breiter gefächerte Morningstar Germany GR EUR Index - der die Performance der breiten regionalen Märkte in Deutschland misst und die besten 97% der Aktien nach Marktkapitalisierung abbildet - liegt seit Anfang Januar etwas über 8,3% im Plus.
Damit hinkt der deutsche Markt seinen Pendants in Europa und den USA deutlich hinterher. So liegt der Morningstar Europe Index 9,48% im Plus. Der Morningstar US Market Index gewann sogar 17,6% in Euro (und 14,1% in US-Dollar) - maßgeblich getrieben durch den Hype rund um die künstliche Intelligenz.
Aktien-Trends 2024: Wie haben sie sich bisher entwickelt?
So machte der KI-Boom den US-Konzern Nvidia (NVDA) zum wertvollsten Unternehmen weltweit und sorgte auch dafür, dass hierzulande der Technologie-Sektor besonders gut abschnitt. Ein Profiteur im Schlepptau der KI war die SAP AG (SAP). Das DAX-Schwergewicht konnte im bisherigen Jahresverlauf über 35% zulegen und war damit maßgeblich für die gute Performance des Börsenbarometers verantwortlich. Die Akquisition von LeanIx und Investitionen stimmen Investoren optimistisch, dass die Walldorfer bei KI und im Cloud-Geschäft mitwachsen können.
Ein weiterer Kurstreiber für bestimmte Einzeltitel blieben die geopolitischen Spannungen. Russlands Krieg gegen die Ukraine wird auch weiterhin für steigende Rüstungsausgaben sorgen und katapultierte die Aktie von Rheinmetall (RHM) seit Jahresbeginn rund 59% höher. Bankentitel wie Commerzbank (CBK) und Deutsche Bank (DBK) profitierten vom positiven Zinsumfeld und Siemens Energy konnte die Verluste im Windgeschäft rund um Siemens Gamesa eindämmen. Mit +104% Kursgewinn setzt sich das Unternehmen weit abgeschlagen an die Spitze der Gewinner im DAX (Stand 26. Juni 2024).
Die Liste der Verlierer führt indes Sartorius an. Der Göttinger Biotechnologie-Zulieferer kämpft immer noch mit den Folgen der Corona-Krise. Die Kunden bauen ihre Lagerbestände weiter ab und investieren nicht.
Besonders gelitten hat in den vergangenen Monaten die Automobilbranche. Die allgemeine Schwäche im Automobilsektor belastet die Autokonzerne wie BMW oder Porsche, die beide seit Jahresbeginn im Minus sind. Der schleppende Bedarf im wichtigen Abnahmemarkt China, der stotternde Übergang zu Elektroautos, Lieferkettenprobleme und Chip-Mangel setzten der Branche über letzten Jahre zu. Der Zulieferer Continental leidet unter hohen Kosten und mauer Nachfrage, die Aktie verlor rund 22% an Wert. Inzwischen wird ein Titel wie Volkswagen bei einem durchschnittlichen Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von nur 3,46 gehandelt.
Aktienmarkt-Prognose: Analysten erwarten steigende Kurse
Und so sehen die von uns befragten Marktbeobachter Aufholpotenzial für viele der deutschen Titel: in der Breite liegen die Bewertungen deutlich unter dem Schnitt der Industrieländer weltweit, heißt es. Dies biete Raum für eine positive Kursentwicklung am deutschen Aktienmarkt.
Dies spiegelt sich auch in den Einschätzungen der Morningstar-Aktienanalysten wider: So notieren 26 der von den Analysten beobachteten 49 deutschen Titel zurzeit im unterbewerteten Bereich, zeigt unsere Analyse vom 24. Juni 2024. Elf dieser Unternehmen notieren sogar im 5-Sterne-Bereich, sind nach Einschätzung unserer Analysten also stark unterbewertet (in dem Artikel schauen wir auf die von unseren Analysten abgedeckten deutschen Aktien und nicht auf die DAX40-Unternehmen).
Aktuell ist der deutsche Markt nur mit einem durchschnittlichen KGV von rund 11,5 bewertet, sagt Marcus Poppe, Co-Head für europäische Aktien bei DWS, im Gespräch mit Morningstar am 25. Juni. In Kombination mit der Erholung der globalen Konjunktur dürfte sich der DAX daher in einer komfortablen Ausgangslage für einen guten Start ins zweite Halbjahr befinden.
"Wir sind leicht konstruktiv für den deutschen Aktienmarkt. Wir sehen zwar keine Kursgewinne im zweistelligen Prozentbereich, aber wir sehen durchaus Kurspotenzial, sofern unser Basisszenario eintritt", so der Fondsmanager. Und dieses lautet: Die Weltwirtschaft legt den Krisenmodus ab und normalisiert sich langsam - wobei die Risiken rund um die globalen Krisenherde eine große Unsicherheit bedeuten und neu aufflammen könnten. Zudem sollten die Zinsen nicht aus dem falschen Grund - enttäuschendes Wirtschaftswachstum statt sinkender Inflation - sinken, wie Poppe weiter bemerkt.
Chancenorientierte Investoren, die an eine Erholung der globalen und chinesischen Wirtschaft glauben und mögliche Störfeuer in Kauf nehmen, kann der deutsche Aktienmarkt mit seinen exportorientierten Unternehmen somit durchaus Chance bieten, lautet die Einschätzung der DWS.
So erzielen die 40 DAX Unternehmen über 80% ihres Umsatzes im Ausland, 22% davon in den USA, weitere 15% in China, 24% aus Geschäften innerhalb der Eurozone, Deutschland nicht miteingerechnet. Produktionsstandorte sind auf aller Welt verteilt, wo niedrigere Energiekosten und wirtschaftsfreundlichere Bedingungen aufzufinden sind.
"Die Investoren holen sich also global aufgestellte Unternehmen ins Depot – und kommen obendrein in den Genuss eines historisch hohen Preisabschlags", sagt Poppe.
Aktien mit Potenzial
Zu einer ähnlich durchaus optimistischen Einschätzung kommt die Allianz Global Investors. Die steigende Risikobereitschaft spiegelt sich nach Einschätzung von Ingo Mainert, CIO Multi Asset Europe, auch in steigenden Aktienquoten in den Portfolios der Investoren wider. Die Volatilität an den Aktienmärkten dürfte aber hoch sein, auch wegen der Wahlen in den USA, Frankreich und Großbritannien, sagte Mainert am 26. Juni vor Journalisten in Frankfurt.
Laut der AGI haben sich zu den Megathemen Deglobalisierung, Decarbonisierung und Demografie in den vergangenen Monaten zwei neue "D's" gesellt: Debt (Staatschulden) und Defense. In dieser Gemengelage dürften nach Einschätzung von Christoph Berger, CIO Equity Europe, beispielsweise Unternehmen wie Siemens (SIE) profitieren. Eine von drei Maschinen weltweit wird mit einem Siemens Controller betrieben, so Berger. Das Unternehmen ist Weltführer bei speicherprogrammierbaren Steuerungen und Automatisierungssysteme und habe mit dem SIMATIC Controller einen Industriestandard gesetzt. Ströer profitere indes von der Digitalisierung von Werbeflächen, Nemetschek-Produkte würden verpflichtend bei öffentlichen Auftragsverfahren und Scout24 profitere von der digitalen Immobilienvermittlung.
Die Analyse meines Kollegen Fernando Luque zeigt, welche Titel die großen Fonds im April auf dem Einkaufszettel hatten bzw. verkauften.
Europas Aktienmärkte mit historischen Abschlägen gegenüber USA
Auch die Analysten von JP Morgan betonen, dass die Abschläge der europäischen Märkte gegenüber dem US Markt auf historischem Hoch sind. "Seit Anfang 2023 entfallen 60% der Erträge des S&P 500 auf nur drei Unternehmen, und die Glorreichen Sieben unter den Aktien (Microsoft, Nvidia, Apple, Alphabet, Amazon, Meta und Tesla) machen nun einen erheblichen Anteil von 32% des Index aus. Auf regionaler Ebene entfällt heute ein Rekordanteil von 64% des globalen Aktienmarkts auf US-Unternehmen", so JPMorgan Asset Management im Investment-Ausblick für das 2. Halbjahr. So werden im S&P 500 die zehn führenden Aktien mit dem 28-fachen der Gewinnprognose für die nächsten 12 Monate gehandelt, im Vergleich zu einem Multiplikator von 19 für den Rest des Marktes.
Diese Marktführerschaft sei auf keinen Fall neu: Die makroökonomischen Faktoren haben in den letzten 15 Jahren fast immer die USA begünstigt. Während Japan gegen die Deflation kämpfte, hatte Europa mit einer Staatsschuldenkrise und den anschließenden Sparmaßnahmen zu ringen.
"Die Bewertungsabschläge für Großbritannien und Europa ohne Großbritannien gegenüber den USA sind mittlerweile beinahe auf ein seit mehreren Jahrzehnten unerreichtes Rekordniveau gestiegen und lassen sich nicht allein durch die Zusammensetzung des Index erklären, da die Bewertungsabschläge gegenüber US-Pendants in fast jedem Sektor überdurchschnittlich hoch sind", heißt es weiter. Da sich die wirtschaftliche Dynamik nun zu Gunsten Europas entwickelt, sehen die Bewertungsabstände zu groß aus, so die Analysten.
Börsenjahr 2024: Sind Small- und Mid-Caps interessant?
Laut JP Morgan gelte dies insbesondere für europäische Small Caps, die aufgrund ihrer Abhängigkeit von variabel verzinslichen Schulden in der zweiten Jahreshälfte überproportional von frühzeitigen Zinssenkungen der EZB profitieren werden und wo der übliche Bewertungsaufschlag gegenüber den Large Caps geschrumpft war.
"Da sich die wirtschaftliche Dynamik nun zu Gunsten Europas entwickelt, sehen die Bewertungsabstände zu groß aus. Dies gilt insbesondere für europäische Small Caps, die aufgrund ihrer Abhängigkeit von variabel verzinslichen Schulden überproportional von frühzeitigeren Zinssenkungen der EZB profitieren werden und wo der übliche Bewertungsaufschlag gegenüber den Large Caps geschrumpft war. Jede Euro-Schwäche infolge einer relativ entgegenkommenderen Haltung der EZB könnte ein weiterer Katalysator für europäische Exporteure werden.", so JPMorgan.
Auch Johan Van Geeteruyen, CIO Fundamental Equity bei DPAM, erwartet eine bevorstehende Outperformance von Small Caps. "Die Anleger haben noch nicht reagiert und bevorzugen Large Caps, bis sich die wirtschaftliche Stabilität verbessert", so DPAM per Email am 27. Juni.
Dies spiegelt sich auch in der Entwicklung des MDAX und SDAX wider. Diese Indizes liegen seit Jahresanfang um 0,2% bzw. 0,8% im Plus. Gerade mittelständische Indutriebetriebe sind oft im MDAX vertreten - und für die Industrie lief es in den vergangenen Jahren nicht so rund, wie die folgende Grafik zeigt.
Wie entwickelt sich der Dax bis Ende 2024?
Die Union Investment verweist in ihrem Halbjahresausblick zudem auf die zunehmenden Risiken wie die US-Präsidentenwahl. "Das Kapitalmarktumfeld bleibt auch in der zweiten Jahreshälfte 2024 gut. Aber der Rückenwind lässt etwas nach", folgert Dr. Frank Engels, CIO Vorstand von Union Investment, in einem Kaitalmarktausblick vom 13. Juni. "Nach einem sehr starken ersten Börsenhalbjahr nehmen die Herausforderungen zu." Er erwartet, dass der DAX 40-Index zum Jahresende die Marke von 19.000 erreicht hat.
Auch die DZ Bank teilt die Einschätzung steigender Kurse. Die Prognose für den DAX liegt bei 19.500 Punkten bis Jahresende (aktueller Stand: 18.335 Punkte). Mitte 2025 dürfte dem Leitindex sogar der Sprung über die Marke von 20.000 Punkten gelingen, sagt Sören Hettler, Leiter Anlagestrategie und Privatkunden, im Gespräch mit Morningstar. "Wir sehen bei den Kursen weiteres Aufwärtspotenzial. Zwar kann es immer wieder zu Rückschlägen kommen, wie wir es zuletzt rund um die unerwartet ausgerufenen Parlamentswahlen in Frankreich gesehen haben und die je nach Ergebnis durchaus für gewisse Spannungen in Brüssel sorgen können", so der Experte. Auch Äußerungen von Zentralbankvertretern zugunsten anhaltend hoher Leitzinsen könnten zu zeitweisen Kurseinbußen an den Börsen führen. Am grundsätzlich freundlichen Umfeld für die Aktienmärkte änderten diese vorübergehenden Einflussfaktoren aber nichts, so Hettler.
"Abgesehen von einem Extremszenario, in dem der Rassemblement National eine
absolute Mehrheit erreicht und sich nach der Wahl kompromisslos zu seinen
Wahlversprechen bekennt, dürfte sich die Situation zumindest stabilisieren", so die DZ Bank.
Deren Volkswirte rechnen für die nächsten Quartale mit einem robusten weltweiten Wirtschaftswachstum. "Wenn die großen deutschen Konzerne schon in den letzten Quartalen in einem von Herausforderungen geprägten Umfeld gute Gewinne erzielt haben, sollte ihnen das in einem freundlichen Konjunkturumfeld sicher auch gelingen", so Hettler.
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