Die Europäische Zentralbank wird auf ihrer Sitzung am 12. September voraussichtlich eine Zinssenkung um 0,25 Prozentpunkte ankündigen. Dies wäre die zweite Zinssenkung, nachdem sie im Juni ihren Zinssenkungszyklus eingeleitet hat.
„Angesichts der Tatsache, dass 85% der befragten Ökonomen eine Zinssenkung der EZB um 25 Basispunkte erwarten, ist es sicher, dass die Märkte enttäuscht sein werden, wenn dies nicht geschieht. Wenn die Erwartungen so einheitlich sind, dann hat das in der Regel einen Grund. Genauer gesagt zwei Gründe, die wir klar erkennen können“, so Morningstar-Stratege Michael Field.
„Erstens sprechen die makroökonomischen Daten, die sich seit der letzten EZB-Sitzung ergeben haben, sehr für den aktuellen Kurs, d.h. für weitere Zinssenkungen. Das BIP der Eurozone wuchs im 2. Quartal um 0,3%, kein überragendes Wachstum, aber solide. Vor allem, wenn man bedenkt, dass wir im vergangenen Jahr nur knapp an einer technischen Rezession vorbeigeschrammt sind. Nachdem wir die Hälfte des Jahres hinter uns haben, deuten die Prognosen der Ökonomen auf ein Wachstum von rund 1% für das Gesamtjahr 2024 hin, was definitiv ein Schritt in die richtige Richtung ist. Zudem sind die Inflationsraten in ganz Europa im August erneut gesunken. Die Daten deuten auf einen Anstieg von 2,2% im Jahresvergleich hin, womit sie in Reichweite der angestrebten 2%-Marke liegen", so Field.
Zweitens war die Rede von Jerome Powell am 23. August in Jackson Hole eindeutig: Die Federal Reserve hat sich den Reihen der EZB, der Bank of England und der Schweizerischen Nationalbank angeschlossen und ist auf den Weg der Zinssenkung eingeschwenkt. „Es scheint, dass der Weg für die Zentralbanken in der westlichen Welt nun klar ist, was die EZB nur noch mehr darin bestärkt, dass die von ihr eingeschlagene Richtung der Zinssenkung die richtige ist", fügte Field hinzu.
Auf ihrer Juni-Sitzung senkte die Bank die Zinsen auf:
Hauptrefinanzierungssatz: auf 4,25%, von 4,50% gesenkt;
Zinssatz für die Spitzenrefinanzierungsfazilität: auf 4,50%, von 4,75% herabgesetzt;
Zinssatz für die Einlagefazilität: auf 3,75%, von 4,00% gesenkt.
Ist die Inflation endlich unter Kontrolle?
Die meisten Ökonomen sind sich einig, dass die erwarteten Zinssenkungen in vorsichtigen Schritten von 0,25 Prozentpunkten erfolgen werden, wobei eine weitere Senkung auf der Dezember-Sitzung der EZB erwartet wird und eine gewisse Wahrscheinlichkeit für einen weiteren Schritt im Oktober besteht, da die Inflation auf dem besten Weg ist, das 2%-Ziel der EZB im Jahr 2026 zu erreichen.
„Die letzten Inflationsdaten waren positiv und gehen in die richtige Richtung. Das ist der große Vorteil im Euroland gegenüber den USA", sagte Carsten Roemheld, Kapitalmarktstratege bei Fidelity, am 3. September telefonisch gegenüber Morningstar.
Dennoch weist Roemheld auf die Unsicherheit der Inflationsentwicklung im Hinblick auf die Energiepreise hin. Die Brent-Ölpreise sind im Jahresvergleich um fast 20% gesunken, trotz eines heißen Konflikts im Nahen Osten, der am 7. Oktober 2023 begann. Unterdessen haben die europäischen Benchmark-Gaspreise an der TTF angesichts mehrerer Ausfälle in der globalen LNG-Infrastruktur und geplanter Wartungsarbeiten in Norwegen ihren höchsten Stand seit Dezember 2023 erreicht.
Roemheld verweist zudem auf die Diskrepanz zwischen Aktien- und Anleihenmärkten. „Die Aktien- und Anleihenmärkte preisen unterschiedliche Entwicklungen ein. Die fallenden Anleiherenditen signalisieren, dass Marktteilnehmer Anleihen kaufen, um sich abzusichern. Gleichzeitig steigen die Aktienmärkte von einem Hoch zum nächsten."
Er geht davon aus, dass die Inflation bis 2025 über der von der EZB angestrebten Marke von 2% liegen wird.
Wie oft wird die EZB die Zinsen im Jahr 2024 senken?
Im Basisszenario rechnet Fidelity weiterhin mit zwei Zinssenkungen im Jahr 2024, mit zwei Schritten von jeweils 25 Basispunkten im September und Dezember. Die Einlagefazilität würde dann am Ende des Jahres bei 3,25% liegen. Fidelity rechnet mit drei weiteren vierteljährlichen Zinssenkungen im Jahr 2025, so dass der Zielzins im September 2025 auf 2,50% sinken würde.
Auch die DWS rechnet weiterhin mit zwei Zinssenkungen im September und Dezember dieses Jahres. Im kommenden Jahr werde es quartalsweise ebenfalls um jeweils 25 Basispunkte abwärts gehen, bis im September 2025 die Zielzinsrate von 2,5% erreicht sei, sagt Ulrike Kastens, Europa-Ökonomin bei DWS, im Gespräch mit Morningstar. Der EZB-Rat werde auf jeden Fall vermeiden wollen, die Zinsen zu schnell zu senken und so einen erneuten Anstieg der Inflation in Kauf zu nehmen.
Das einzige, was für eine weitere Zinssenkung im Oktober spricht, wäre ein stärker als erwarteter Konjunktureinbruch und damit verbunden eine höher als erwartete Zinssenkung in den USA, so Kastens.
Sie rechnet auch nicht damit, dass die Inflation im nächsten Jahr das EZB-Ziel von 2% erreichen wird. Die DWS prognostiziert für die Eurozone eine durchschnittliche Inflationsrate von 2,5% in diesem Jahr und 2,3% im Jahr 2025. Doch danach dürfte sich die Teuerungsrate aber Richtung 2% bewegen, so Kastens.
Auch Bastian Freitag, Head of Fixed Income Germany bei Rothschild & Co, erwartet Senkungen von jeweils 25 Basispunkten in den Sitzungen im September und Dezember sowie weitere quartalsweise Schritte in 2025. Zwar dürfte die Inflation zum Jahresende aufgrund von Basiseffekten noch einmal leicht anziehen, graduell bewege sich die Inflation aber in Richtung 2%. Risiken gehen von Servicepreisinflation, Ölpreis, wieder leicht steigenden Geldmengenwachstum sowie die Lohnentwicklung aus, sagte Freitag am 5. September gegenüber Morningstar.
EZB könnte BIP-Wachstumsprognose senken
Kastens von der DWS erwartet zudem, dass die EZB-Ökonomen ihre Prognose für das BIP-Wachstum in der September-Sitzung nach unten revidieren. In der Juni-Prognose der Zentralbank hieß es, das Wirtschaftswachstum werde sich voraussichtlich auf 0,9% im Jahr 2024, 1,4% im Jahr 2025 und 1,6% im Jahr 2026 beschleunigen. Die DWS traut der Eurozone hingegen 2025 nur ein Wachstum von 1% zu.
Wie werden sich Zinssenkungen auf die Märkte auswirken?
Die Aktienmärkte tendieren dazu, bei erwarteten Zinssenkungen zu steigen. An den Anleihemärkten bedeuten sinkende Zinssätze niedrigere Renditen, was die Anleihekurse nach oben treibt. Niedrigere Zinssätze machen auch bestehende Anleihen, insbesondere solche, die bereits während einer Hochzinsphase ausgegeben wurden, attraktiver für Renditen.
Gleichzeitig werden die Sparzinsen auf Bankkonten wahrscheinlich sinken, zum Nachteil der Sparer. Kreditnehmer hingegen werden von den niedrigeren Zinsen profitieren, da Verbraucherschulden und Hypotheken billiger werden. (Lesen Sie hier mehr über den Zusammenhang von Hypothekenzinsen und EZB-Leitzinsen.)
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